Heute ist der 24. Dezember. Heiligabend, um genau zu sein 😉 . Sehnsüchtig wird in vielen Wohnungen und Häusern der Mann mit dem weißen Rauschebart und dem roten Mantel erwartet. Doch bis dahin muss die verbleibende Zeit ja genutzt werden…
…vielleicht mit einer kleinen, diabetischen Weihnachtsgeschichte…? 😉
Als Sophia aufwacht, ist es noch stockdunkel. Ihr ist ein bsischen schwindelig, aber das kommt bestimmt von der Müdigkeit, die sie noch nicht ganz abschütteln kann. Sophia zieht die Decke über ihren Kopf und horcht auf ihr wild schlagendes Herz in ihrem Brustkorb. Unter ihrem Bett gibt es nämlich Monster, die nur nachts – und wenn sie ganz alleine ist, natürlich – aus der finsteren Ecke unter ihrem Bettgestell hervor lugen und nur darauf warten, die kleine Sophia zu verspeisen.
Aber ihr Mund ist staubtrocken und ihr Hals kratzt. Sie hat Durst. Furchtbaren Durst.
Der Wind rüttelt laut an den Baumkronen vor ihrem Fenster, während sich die in Mondlicht getauchten Gardinen bauschen. Sophia läuft es kalt den Rücken herunter. Der Durst drückt jetzt auf ihren Brustkorb, genau so, wie ihr Herz, das polternd gegen ihre Rippen stößt. Obwohl sie sich fest eingeredet hat, nicht zu weinen, weil sie ja jetzt ein großes Mädchen ist, drängelt sich eine klitzekleine, nackte Träne aus ihrem rechten Augenwinkel und stiehlt sich ihre Wange hinab. Sophia hatte nämlich vorgestern Geburtstag. Fünf Jahre alt ist sie geworden.
,,So alt wird doch kein Schwein!“ Hatte ihre Tante Emma gelacht und ihr einen bitter schmeckenden roten Lippenstiftkuss auf ihre blassen Lippen gedrückt. Das war so ekelhaft gewesen! Hinterher hatte sie sich das satte Apfelrot mit ihrem Ärmel abgewischt. Sie hatte den Spruch von Tante Emma nicht verstanden. Was sollte denn so gut daran sein, älter als ein Schwein zu werden? ,,Schweine sind mutige, starke Tiere!“ Hatte ihre Mutter ihr anschließend erklärt und ihr durch ihre blonden Haare gewuschelt. Das war schon viel besser! Denn mutig und stark, das wollte Sophia auch gerne sein. ,,Bist du ja jetzt auch!“ Grinste ihre Mutter. ,,Mit fünf, da ist man ja auch ein großes Mädchen.“ Ein verschmitztes Augenzwinkern und sie verschwand zurück in die Küche, um den großen Geburtstagskuchen zu holen.
Und nun lag Sophia in ihrem Bett und hatte Angst, zu ihrer Mutter ins Schlafzimmer zu gehen, um ihr Bescheid zu sagen. Das war doch bescheuert! Sie spürte, wie sie wütend wurde. Wütend auf die blöde Dunkelheit und wütend auf diese bösen Monster unter ihrem Bett, die einfach nicht verschwinden wollten, egal, wie oft ihr Vater schon unter das Bett gekrabbelt war und sie verscheucht hatte. Aber vor allen Dingen wütend auf sich selbst! Deshalb schlug sie mit einer ruckartigen Bewegung ihre warme, verlockende Decke zurück und sprang aus dem Bett. Rumps! Geschafft! Sie atmete tief durch und hielt dann den Atem an, um auf ihren nackten Füßen über den kalten Parkett-Fußboden zu rennen und die Kinderzimmertür fest hinter sich zuzuschlagen, damit die fiesen Biester sie nicht doch noch erwischen konnten…
…,,Mama, ich habe Durst!“ Verschlafen blinzelt ihre Mutter mit den Augen. ,,Aber Liebes, du hast doch den ganzen Tag schon soviel getrunken!“ ,,Ich habe aber riesengroßen Durst!“ Jammert Sophia und fängt jetzt doch an, zu weinen. Wütend schluchzt sie laut auf, als ihre Mutter sie behutsam in den Arm nimmt. ,,Weißt du was? Morgen früh besuchen wir mal Herrn Tompson. Vielleicht weiß er ja, warum du in letzter Zeit immer so unkonzentriert bist.“ Sophia sagt nichts, aber insgeheim freut sie sich jetzt ein bisschen. Denn ihr Kinderarzt hat immer irgendeine kleine Überraschung für sie. In einer Schublade unter dem Schreibtisch darf sie sich immer etwas aussuchen. Herr Tompson hatte ihr auch einmal ihren Lieblingsring geschenkt: Ein Prinzessinnen-Kopf mit pinkfarbenen Federschmuck. ,,Für eine kleine Prinzessin! Den musst du so lange tragen, bis ein Märchenprinz kommt und dir einen schöneren schenkt!“ Sophia war zu aufgeregt gewesen, um etwas zu erwidern. Aber insgeheim dachte sie bei sich: Es gibt nirgendwo auf der ganzen Welt einen schöneren Ring als diesen, den ihr Kinderarzt ihr angesteckt hatte.
Doch an diesem regnerischen Mittwoch-Morgen runzelt Herr Tompson nur mit der Stirn, während er auf das vor sich liegende Blatt Papier starrt. Nachdenklich kaut er auf seiner Unterlippe. Die Stille im Raum lässt die Luft ganz schwer werden, so dass Sophia glaubt, das Atmen geht ein klitzekleines bisschen schwerer als sonst. Sie schnaubt leise aus, so machen das die Pferde immer, wenn sie mit ihren weichen Nüstern in ihre Handflächen pusten, um sie an ihrem Geruch zu erkennen. ,,Tja.“ Sagt der Mann vor ihnen, während Mami ihre Hand ganz fest drückt. ,,Es sieht ganz so aus, als wäre ihr kleines Mädchen an Diabetes erkrankt.“ Keiner sagt etwas. Sophia hört nur, wie ihre Mutter unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her rutscht und schließlich hart schluckt: ,,Und wie geht´s jetzt weiter?“
Der Regen nieselt so leicht vom Himmel, dass er sich wie glänzender Staub über die Dächer und Straßen legt. Ihre Mutter schweigt die ganze Autofahrt nach Hause über. Sophia hat Angst. Normalerweise erklärt sie ihr gerne einiges. Wenn sie an einem Feld vorbei fahren, wo Kühe auf einer Weide stehen, dann erklärt sie ihr zum Beispiel öfters, warum das Wiederkäuer sind (weil sie vier Mägen haben und ihr Essen deshalb öfter kauen und wieder herunter schlucken müssen). Aber jetzt schweigt sie einfach nur und sucht im Rauschen des Autoradios nach einem anständigen Sender. Sophia hat ein bisschen Angst, zwar nicht ganz so schlimm wie letzte Nacht, aber doch. Angst. Herr Tompson hatte heute sogar vergessen, sie in seine Schublade schauen zu lassen, um sich etwas auszusuchen. Und das hatte ganz bestimmt nichts gutes zu bedeuten!
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